Die Antikriegstagsprozesse 1972 - 1980

Der Prozess gegen Dieter Vogelmann

Materialien zur Analyse von Opposition

Von Dietmar Kesten, Gelsenkirchen, September 2011

Eines der wohl spektakulärsten Urteile im „Roten Antikriegstagsprozess 1972“ war das gegen Dieter Vogelmann. 8 Jahre nach dem „RAKT“ musste Vogelmann wegen seiner Teilnahme an der Demonstration in München für 1 Jahr hinter Gitter.

1973

Laut „Roter Morgen“ wird Dieter Vogelmann im November 1973 wegen seiner Beteiligung am „Roten Antikriegstag 1972“ des „Landfriedensbruch“ und der „Teilnahme an einer verbotenen Demonstration“ angeklagt. Einziger „Beweis“: Ein Foto, auf dem er zu sehen sein soll (vgl. 3. November 1973).

1975

Als „Terrorurteil“ bezeichnet der „Rote Morgen“ die Gefängnisstrafe von 1 Jahr gegen Dieter Vogelmann. Vogelmann sei nur aufgrund eines Fotos verurteilt worden, dass der Staatsanwaltschaft erst 1973 zugegangen sei. Hier würde „ein Revolutionär“ verurteilt. Gleichzeit wurde er zu „900 DM Geldstrafe“ verurteilt, weil er ein Flugblatt zum „Schreibtischmord an Sascha Haschemi“ verteilt haben soll (vgl. 29. März 1975).

1976

In München soll am 6./7. und 8. Oktober 1976 der Prozess gegen Vogelmann stattfinden. Anklage: „Besonders schwerer Landfriedensbruch“. Es handelt sich hierbei um den Berufungsprozess (vgl. 6. Oktober 1976).

Das Urteil gegen Vogelmann wegen seiner Teilnahme an der „Roten Antikriegstagsdemonstration 1972“ wird gesprochen: Er erhält „ein Jahr auf Bewährung“. Zusätzlich wird er zu einer Geldstrafe von „2.000 DM“ verurteilt (vgl. 23. Oktober 1976).

1978

Am 11.5.1978, 6 Jahre nach dem „RAKT“, wird erneut gegen Vogelmann verhandelt. Die Staatsanwaltschaft hatte gegen das Urteil von 1975 „Berufung eingelegt“. Von der Staatsanwaltschaft wird eine Gefängnisstrafe „ohne Bewährung“ gefordert (vgl. 5. Mai 1978).

Laut „Roter Morgen“ 20/1978 ergeht am 11.5. in München das Urteil gegen Dieter Vogelmann: „Ein Jahr Gefängnis ohne Bewährung.“ Einziger Grund: Ein Foto, auf dem angeblich der Verurteilte zu sehen ist (vgl. 19. Mai 1978).

1979

Vogelmann erhält Unterstützung von seinen Kollegen des „Thyssen-Henschel-Werks“ in Mühlheim, die sich in einer „Resolution“ gegen das Urteil aussprechen: „Vogelmann ist kein Krimineller“ (vgl. Mai 1979).

Der „Allgemeine Bürger- und Schützenverein Wattenscheid“ verabschiedet eine „Resolution“ zu Vogelmann (vgl. 3. Mai 1979).

Laut „Rote Hilfe - Mitteilungen der Roten Hilfe Deutschlands“, Nr. 6/1979, verabschiedet der „Allgemeine Bürger- und Schützenverein Wattenscheid“ eine Resolution zu Dieter Vogelmann, in der u. a. gefordert wird: „Dieter Vogelmann darf nicht ins Gefängnis kommen.“ (vgl. 3. Mai 1979).

Am 11. Mai 1979 soll, laut „Rote Hilfe“, Vogelmann erneut vor Gericht stehen. Damit muss er bereits zum dritten Mal vor Gericht erscheinen (vgl. 11. Mai 1979).

Vogelmann muss laut „Rote Hilfe“ für „in Jahr ins Gefängnis“. Die Aussetzung der Strafe zur Bewährung wird vom Gericht abgelehnt. Er muss täglich mit der „Ladung zum Strafantritt“ rechnen (vgl. Juni 1979).

1980

Laut „Spiegel“ 5/1980 ist die Strafe gegen Vogelmann rechtskräftig. Vermutlich muss er gegen Ende 1979/Anfang 1980 seine Strafe antreten (vgl. 28. Januar 1980).

Auszug aus der Datenbank „Materialien zur Analyse von Opposition“ (MAO)

03.11.1973:
Laut „Roter Morgen“, Nr. 43/1973, hat die „Klassenjustiz Dieter V. angeklagt. Sie schrecke „vor keiner noch so fadenscheinigen ‘Beweisführung‘ zurück, wenn es gilt, aufrechte Kommunisten hinter Gitter zu bringen“.

Dieter V. hat sie angeklagt, „wegen ‘Landfriedensbruch‘ und ‘Teilnahme an einer verbotenen Demonstration‘. Gemeint ist der Rote Antikriegstag 1972 in München. Einziger ‘Beweis‘: Ein Foto, das sie angeblich vor dem Genossen haben will. Was von solchen Fotos zu halten ist, hat schon der Prozess gegen den Genossen Schmidt gezeigt. Damals karrte der Staatsanwalt zig Fotos an- auf keinem war der Genosse Schmidt nicht zu identifizieren. Trotzdem galten sie als ‘Beweismaterial‘.“
Quelle: Roter Morgen Nr. 43/1973, Hamburg, S. 7.

29.03.1975:
Im „Roter Morgen“, Nr. 13/1975, erscheint der Artikel: „Roter Antikriegstagsprozess. Neues Terrorurteil - 1 Jahr ohne Bewährung“, heißt es:

‘… Die Gefängnisstrafe zur Bewährung auszusetzen, steht nur dann zur Debatte, wenn die Strafandrohung allein schon ausreicht, den Angeklagten ihre politische Meinung auszureden…‘

„so begründete Richter Sellmayr sinngemäß das Terrorurteil von einem Jahr Gefängnis ohne Bewährung gegen Genossen Dieter Vogelmann im Antikriegstagsprozess in der letzten Woche in München. Bestraft werden soll die kommunistische Gesinnung des Genossen. Aus diesem Grund hatte ihm die Staatsanwaltschaft 1973 bald ein Jahr nach der Demonstration zum Roten Antikriegstag 1972 allein aufgrund von Photos eine Anklageschrift ins Haus geschickt. Auf diesem Grund fand jetzt der Prozess in München statt.

Bereits als der Genosse in seiner Erklärung zur Sache die Berechtigung und Notwendigkeit der revolutionären Gewalt gegen den imperialistischen Staatsapparat nachwies und auf die Verschärfung der Faschisierungsmaßnahmen einging, drohte im Staatsanwalt Wahl mit neuen Anzeigen und mit Ordnungsstrafe. Weil er von ‘Mordeinsatzkommandos‘ im Zusammenhang mit den zahlreichen Polizeimorden sprach, soll er jetzt wegen Beleidigung belangt werden. Am Ende des Prozesses dann, beim Schlusswort des Genossen, entriss ihm Staatsanwalt Wahl gewaltsam seine Aktentasche mit seinen gesamten Aufzeichnungen, um auch daraus neue Anklagen zusammenbasteln zu können.

Bereits dieses Vorgehen der Staatsanwaltschaft zeigt, dass dieser ganze Prozess nur einen Zweck hatte, einen Revolutionär zu verurteilen und hinter Gitter zu bringen. Das wurde bei der Zeugenvernehmung noch klarer. Erster Zeuge der Staatsanwaltschaft war der in Antikriegstagsprozessen bekannte Bildzeitungsphotograph Werner. Er hatte für diesen Prozess besondere Bedeutung, weil es für die bürgerliche Klassenjustiz, will sie nicht bei einem solchen ‘Photobeweis‘ ihr demokratisches Gesicht völlig verlieren, zumindest notwendig ist, die Herkunft der Photos zu belegen. Zeuge Werner aber erklärte, als ihm die sechs Beweisphotos vorgelegt wurden, sie seien nicht von ihm. Erst nachdem der Staatsanwalt ihm seine Aussage im letzten Prozess, wo er das genaue Gegenteil gesagt hatte, vorhielt und ihm dann noch zwei Vergrößerungen vorlegte, ‘erkannte‘ Werner seine Bilder wieder. Auf die anschließende Frage der Verteidigung, wer ihn denn eigentlich bezahle, meinte dann der Richter: Die Frage der Bezahlung sei für die Glaubwürdigkeit des Zeugen unerheblich.

Nächster Zeuge war der Polizist Forstner, Hauptbelastungszeuge und ‘Spezialist‘ für die von der Bourgeoisie erfundene ‘Gefährdung der Bevölkerung durch die Demonstranten‘. Als er diesmal aufgefordert wurde, doch zum Beweis für seine Reden mal die Anzeigen aus der Bevölkerung auf den Tisch zu legen, berief er sich plötzlich auf die angebliche Anzeige einer Frau, die mit einer Holzstange zusammengeschlagen worden sei. Von dieser angeblichen Anzeige hörte man jetzt 2 ½ Jahre nach der Demonstration allerdings zum ersten Mal. Sie wurde deshalb auch von Genossen Dieter und der Verteidigung als konstruiert entlarvt. Wieder sprang der Richter ein: Ob diese Anzeige existiere oder nicht, interessiere nicht.

Mit anderen Worten: Der Zeuge mag lügen oder nicht, das spielt für die ‘Wahrheitsfindung‘ keine Rolle. Ähnlich wie die Zeugen wurden auch andere ‘Beweismittel‘ vom Gericht ‘gewürdigt‘. So wurde auch in diesem Prozess der ‘taktische Plan‘ für die Demonstration aufgefahren, der angeblich in einem Bus von Demonstranten gefunden wurde. Der Richter, der Plan stamme zwar nicht von der KPD/ML, Dieter Vogelmann habe ihn auch wahrscheinlich nicht gekannt. Aber er beweise schließlich immerhin, dass es für diese Demonstration einen Plan gegeben habe.

Diese ‘Beweise‘ für die Anklage der Staatsanwaltschaft waren die einzigen, die zugelassen wurden. Die Beweisanträge der Verteidigung wurden alle abgelehnt. Der Staatsanwalt forderte anschließend in seinem Plädoyer 16 Monate Gefängnis, was er vor allem mit dem revolutionären Auftreten des Genossen im Gericht selbst begründete. Wie schon in früheren Prozessen, unterbrach Staatsanwalt Wahl dann auch diesmal das Plädoyer des Verteidigers, Rechtsanwalt Flints mit üblen Beschimpfungen und drohte ihm mit ‘standesrechtlichen Konsequenzen‘.

Richter Sellmayr, der Genosse Dieter erst vor wenigen Wochen zu 900 DM Geldstrafe verurteilt hatte, weil er angeblich ein Flugblatt gegen den geplanten Schreibtischmord an Sascha Haschemi verteilt haben soll, sprach dann das Urteil: Ein Jahr ohne Bewährung. Einziger ‘Beweis‘ für die Teilnahme des Genossen an der Demonstration blieben nach wie vor die erwähnten Photos, bei denen noch nicht einmal der geringste Versuch einer Identifizierung gemacht worden war.

Solche Prozesse sind allerdings nicht geeignet, den Angeklagten ‘ihre politische Meinung auszutreiben‘, im Gegenteil, sie zeigen deutlich, dass hier nicht ‘im Namen des Volkes‘ Recht gesprochen wird, sondern im Namen der Kapitalistenklasse, die die Kommunisten und andere Revolutionäre mit allen Mitteln bekämpft. Wie aber soll man in einem solchen Staat anders um sein Recht kämpfen als mit revolutionärer Gewalt, als mit dem Ziel der sozialistischen Revolution vor Augen.“
Q: Roter Morgen Nr. 13/1975, Dortmund, S. 8.

06.10.1976:
Im „Roten Morgen“, Nr. 40/1976, heißt es in der Rubrik „Kampf der bürgerlichen Klassenjustiz“ unter München:

„In München findet am 6., 7. und 8. Oktober ein Prozess gegen Dieter Vogelmann statt. Dieter ist wegen besonders schweren Landfriedensbruch angeklagt im Zusammenhang mit dem Roten Antikriegstag 1972. Einige ‘Beweismittel‘ sind Photos, auf denen Dieter angeblich zu sehen sein soll. Es handelt sich jetzt um den Berufungsprozess. In der ersten Instanz war Dieter zu 12 Monaten Gefängnis verurteilt worden.“
Q: Roter Morgen Nr. 40/1976, Dortmund, S. 7.

23.10.1976:
Im „Roten Morgen“, Nr. 43/1976, erscheint der Artikel: „Antikriegstagsprozess in München. 1 Jahr Gefängnis - 2. 000 DM Geldstrafe.“ Ausgeführt wird:

„Am 7., 8. und 11. Oktober fand in München der Berufungsprozess des Genossen Dieter V. statt. Genosse Dieter war in erster Instanz von der bürgerlichen Klassenjustiz zu einem Jahr Gefängnis ohne Bewährung verurteilt worden, weil er an der Demonstration zum Roten Antikriegstag 1972 in München teilgenommen haben soll.

Neben den völlig unglaubwürdigen Aussagen des Berufungszeugen Forstner von der Münchener Kriminalpolizei, der schon in allen vorherigen Prozessen zum Roten Antikriegstag dem Gericht die Aussagen lieferte, die jeweils gebraucht wurden, konnte die bürgerliche Klassenjustiz lediglich einen ‘Beweis‘ anführen: Verwackelte und undeutliche Photos von der Demonstration, auf denen angeblich unter den vielen Demonstranten auch Genosse Dieter zur Hälfte zu sehen sein soll. Allein dies hatte der bürgerlichen Klassenjustiz ausgereicht, Genossen Dieter in erster Instanz zu einem Jahr Gefängnis ohne Bewährung zu verurteilen.

Im jetzigen Berufungsprozess gelang es, diesen ‘Beweis‘ völlig zu erschüttern. Der Polizeizeuge Forstner verwickelte sich bei näherer Befragung immer offener in Widersprüche. Auch der angebliche Fotograf der Bilder, der bei der Bildzeitung arbeitet, konnte entlarvt werden. Als ihm nachgewiesen wurde, dass er nicht einmal beweisen könne, dass diese Bilder von ihm fotografiert worden seien, behauptete er plötzlich, er könne sich genau daran erinnern, wie er diese Fotos während der Demonstration geschossen habe. Er erinnere sich genau an die Einstellung usw. Dagegen hatte er noch während der 1. Instanz behauptet, sich nicht mehr erinnern zu können, wen er wie und wo bei der Demonstration fotografiert habe.

Dennoch behauptete das bürgerliche Klassengericht schlichtweg weiter, Dieters Teilnahme an der Demonstration sei erwiesen und verurteilte ihn deswegen. Das Urteil, das jetzt auf ein Jahr Gefängnis mit Bewährung lautet, ist zwar ein gewisser Erfolg. Zugleich aber sind die Bedingungen dieser ‘Bewährung‘ ausgesetzt und Genosse Dieter wurde zusätzlich noch zu einer Geldstrafe von 2. 000 DM verurteilt. Es ist ein Urteil, wie Genosse Dieter am Ende des Prozesses nachwies, das mit den Tatsachen nichts zu tun hat, sondern ein offenes Gesinnungsurteil.“
Q: Roter Morgen Nr. 43/1976, Dortmund, S. 8.

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05.05.1978:
Laut „Roter Morgen“, Nr. 18/1978, finden „6 Jahre nach dem Roten Antikriegstag 1972 - immer noch Prozesse“ statt. Dazu heißt es:

„6 Jahre nach dem Roten Antikriegstag werden immer noch Prozesse durchgeführt, um Demonstranten hinter Gitter zu bringen. Am 11. Mai wird Dieter Vogelmann erneut vor Gericht stehen. Der Staatsanwalt hatte gegen das Urteil von 1975 Berufung eingelegt. Damals hatte Dieter ein Jahr Gefängnis auf Bewährung erhalten. Er war allein Auf Grund vom Fotos angeklagt worden.

Der Staatsanwalt fordert Gefängnis ohne Bewährung mit der Begründung, durch die Aussetzung der Strafe zur Bewährung würde das ‘Vertrauen der Bevölkerung in die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege schwinden. Auch der Nachahmungseffekt für potentielle Täter darf nicht unberücksichtigt bleiben.‘

Gewünscht wird also ein Abschreckungs-Urteil.

Unterstützt Dieter Vogelmann im Kampf gegen die drohende Gefängnisstrafe! Termin der ersten Verhandlung 11.5. Justizgebäude München, Nymphenburgerstraße 16, Saal B 277, 9 Uhr.“
Q: Roter Morgen Nr. 18/1978, Dortmund, S. 7.

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19.05.1978:
Im „Roten Morgen“, Nr. 20/1978, erscheint der Artikel: „6 Jahre nach dem Roten Antikriegstag 72 - Erneut Gefängnisurteil gegen Antimilitaristen.“ Ausgeführt wird:

„Sechs Jahre nach dem Roten Antikriegstag 1972 in München wurde Dieter Vogelmann zu einem Jahr Gefängnis ohne Bewährung verurteilt. In der Verhandlung, die am 11. 5. in München stattfand, ging es nur noch um diese Gefängnisstrafe. Das eigentliche Urteil war schon vorher gesprochen worden. Einzig und allein auf Grund von Fotos, zu denen selbst der damalige Sachverständige erklären musste, es könnte Dieter Vogelmann sein, es könnte aber auch jeder andere sein …

Damals verurteilte das Gericht Dieter Vogelmann wegen schwerem Landfriedensbruch und schwerem Widerstand gegen die Staatsgewalt zu einem Jahr Gefängnis mit Bewährung. Dagegen legte der Staatsanwalt Revision ein und das Oberbayrische Landesgericht gab diese Revision statt. Begründung: Die Strafaussetzung zur Bewährung störe das ‘Rechtsempfinden‘ der Bürger. Eine Argumentation, die der Staatsanwalt in der Verhandlung am 11.5. aufgriff und mir zwei nicht minder verlogenen und unverschämten Begründungen ergänzte: in den bisherigen Verfahren im Zusammenhang mit dem Roten Antikriegstag seien alle Angeklagten bis auf einen entsprechend abgeurteilt worden und deshalb sei das aus Gründen der ‘Gleichbehandlung der Täter‘ auch hier notwendig. Außerdem müsse, da es seit 1972 immer mehr solcher gewaltsamer Demonstrationen gegeben habe, ein Urteil gefällt werden, das abschreckend wirke.

Dieter Vogelmann ging in seinem Schlusswort auf das Plädoyer des Staatsanwaltes ein und entlarvte insbesondere das Gerede vom ‘Rechtsempfinden‘ der Bürger, mit dem hier seine Verurteilung betrieben werden sollte. Denn was das Rechtsempfinden und der Gerechtigkeitssinn der Werktätigen wirklich fordern, das hatte er selbst erlebt. Über 90 Prozent der Kollegen der Abteilung, in der er arbeitet, hatten mit ihrer Unterschrift gegen seine Verurteilung protestiert! Aber die Meinung der Arbeiter interessierte natürlich das Gericht nicht. Es entsprach mit seinem Urteil - ein Jahr ohne Bewährung - dem Antrag des Staatsanwalts und den Interessen der Bourgeoisie.

Was das Gericht vom Volk hält, zeigte sich im Übrigen auch bei den Schikanen, denen die Zuschauer ausgesetzt waren. Sie mussten Blumen, die sie für den Angeklagten ausgebracht hatten, außerhalb des Gerichtssaales liegen lassen. Das Gericht: Das störe die sachliche Atmosphäre der Verhandlung. Sie mussten ihre Schirme abgeben. Das Gericht: Sie könnten als Wurfgeschoss benutzt werden und ihre Taschen durchsuchen lassen. Außerdem standen während der gesamten Verhandlung einer Gruppe von Polizisten vor der Tür des Zuschauersaals, weitere Polizisten in Uniform und in Zivil sagen auf den Zuschauerbänken.“
Q: Roter Morgen Nr. 20/1978, Dortmund, S. 7.

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Mai 1979:
Laut „Rote Hilfe - Mitteilungen der Roten Hilfe Deutschlands“, Nr. 6/1979, verabschieden „die Kollegen des Thyssen-Henschel-Werks in Mühlheim“ eine Resolution, aus der hervorgeht, dass „Dieter Vogelmann kein Krimineller ist“.
„Er darf wegen seiner politischen Gesinnung Freiheit und Arbeitsplatz nicht verlieren“.
Q: Rote Hilfe - Mitteilungen der Roten Hilfe Deutschlands, Nr. 6/1979, S. 1.

03.05.1979:
Laut „Rote Hilfe - Mitteilungen der Roten Hilfe Deutschlands“, Nr. 6/1979, verabschiedet der „Allgemeine Bürger- und Schützenverein Wattenscheid“, eine Resolution zu Dieter Vogelmann. Ausgeführt wird:

„Am 11. Mai 1978 muss unser langjähriger Schützenbruder Dieter Vogelmann wegen seiner Teilnahme an der Antikriegstagsdemonstration am 1. September (2. September, d. Vf.) 1972 in München zum 3. Mai vor Gericht. Der Staatsanwaltschaft will, dass er zu 12 Monaten Gefängnis (ohne Bewährung) verurteilt wird. Wir fordern: Dieter Vogelmann darf nicht ins Gefängnis kommen.“
Q: Rote Hilfe - Mitteilungen der Roten Hilfe Deutschlands, Nr. 6/1979, S. 1.

11.05.1979:
Laut „Rote Hilfe - Mitteilungen der Roten Hilfe Deutschlands“, Nr. 6/1979, steht Dieter Vogelmann wegen seiner Teilnahme am „Roten Antikriegstag 1972“ zum 3. Mal vor Gericht.
Q: Rote Hilfe - Mitteilungen der Roten Hilfe Deutschlands, Nr. 6/1979, S. 1.

Juni 1979:
Laut „Rote Hilfe - Mitteilungen der Roten Hilfe Deutschlands“, Nr. 6/1979, muss Dieter Vogelmann, der bei der „Antikriegstagsdemonstration 1972“ in München verhaftet worden war, „ins Gefängnis“. Dazu heißt es in der „RHD“:

„Dieter Vogelmann aus Bochum-Wattenscheid, Facharbeiter bei Thyssen in Mühlheim, muss für ein Jahr ins Gefängnis. Täglich muss er mit der „Ladung zum Strafantritt“ (Strafantritt vermutlich Januar 1980, d. Vf.) rechnen. Und was hat er ‘verbrochen‘, dass er so hart bestraft wird? Er nahm 1972 am Jahrestag des Ausbruchs des 2. Weltkriegs, an einer Demonstration gegen die Gefahr eines neuen Weltkriegs teil, in deren Verlauf es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei gekommen ist.

Das Gericht bescheinigte ihm, weder ‘gewalttätig‘ noch ‘bewaffnet‘ gewesen zu sein. Er hat daran teilgenommen- das genügt. Bewiesen wird seine Teilnahme durch die Aussage eines Polizisten und durch Fotos eines Bild-zeitungs- Reporters, die ein Jahr später aufgetaucht worden waren. Auf diesen Fotos kann man 50-100 Demonstranten sehen, die Schutzhelme tragen- das Gericht erkennt aber zweifelsfrei Dieter Vogelmann unter ihnen.

Im Urteil der 1. Instanz wird die Aussetzung der Strafe (nach § 56 StGB, d. Vf.) zur Bewährung in folgender Weise abgelehnt: ‘… So würde dies von der rechtstreuen Bevölkerung nicht nur nicht verstanden werden, es würde auch der Eindruck entstehen, es seien die staatlichen Ordnungskräfte dem Demonstrantensturm auf Rechtsgüter nicht gewachsen oder die Rechtspflegeorgane nehmen es mit der Verfolgung von Straftaten nicht ernst. Zudem wäre zu besorgen, dass Leute, denen die im Urteil zutage tretende staatliche Reaktion bekannt wird, zu ähnlichen Demonstrationen und deren Teilnahme daran direkt angeheizt werden, denn für sie spürbare Folgen würden bei der Verurteilung mit Strafaussetzung zur Bewährung nicht entstehen …‘

Hat man je gehört, dass die Gericht derartige Überlegungen anstellten (alle drei Berufungsinstanzen verweigerten Vogelmann übrigens die Bewährung, d. Vf.), als es um die Verurteilung von Nazi-Mördern ging? Ungefähr zu der Zeit, als Dieter Vogelmann erfuhr, dass die Gefängnisstrafe rechtskräftig war, wurde in Bochum ein ehemaliger SS-Angehöriger freigesprochen, dem die Anklageschrift die Beteiligung an der Ermordung von 5. 000 Juden vorwarf. Das Gericht konnte den Zeugenaussagen nicht glauben, weil sich die Überlebenden der Massaker jährlich zum Gedenken an die Ermordeten trafen, und dabei Selbsterlebtes mit Erzähltem vermischt werden konnte …

Die Gefängnisstrafe gegen Dieter Vogelmann (Mitglied des Essener Eisler-Chors und der Laienspielgruppe „Pfeffermühle Bochum“, d. Vf.) ist von seinen Kollegen und Bekannten mit Empörung aufgenommen worden. Noch während das Verfahren lief, setzten sie sich in einer Resolution für ihn ein. Dieses Urteil stellt Dieter Vogelmann vor große Probleme. In seinem Betrieb wird zur Zeit scharf durchrationalisiert, und es wird daher schwierig sein, dass er den Arbeitsplatz behält. Ohne Arbeit und damit ohne Geld kann er auch seine Wohnung nicht halten, seine Möbel müssten irgendwo untergestellt werden, was auch mit Kosten verbunden ist.

Die Bochumer Mitglieder der Roten Hilfe Deutschlands sind hier vor große Aufgaben gestellt. Aber noch ist Dieter Vogelmann nicht im Gefängnis. Mit seinen Kollegen fordern wir: Dieter Vogelmann darf nicht ins Gefängnis kommen.“
Q: Rote Hilfe - Mitteilungen der Rote Hilfe Deutschlands, Nr. 6/1979, Dortmund, S. 1.

28.01.1980:
Laut „Der Spiegel“, 5/1980, muss „acht Jahre nach einer Straßenschlacht in München“ „ein Mitläufer ins Gefängnis“. Danach handelt es sich um Dieter Vogelmann.

„Gegen alle juristischen Gewohnheiten muss Vogelmann eine Kurzstrafe von einem Jahr verbüßen, obwohl er - anders als die anderen Verurteilten - ganz gewiss nur ein Mitläufer gewesen ist.“

Offenbar war er bei der „Sichtung des Bildmaterials“ aufgefallen. Und wurde vom Münchener Amtsgericht „zu einem Jahr Gefängnis ohne Bewährung“ verurteilt.

Der Umstand, dass er in den „vordersten Reihen mit einem Schutzhelm gesichtet worden war“, und die „Zielsetzung“ der Demonstration reichte aus, um ihn wegen „gemeinschaftlichen Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Landesfriedensbruch“ anzuklagen.
Q: Der Spiegel 5/1980, 28.1.1980; in: Spiegel Online, 14. August 2011.

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