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Kurzer Abriss der Kommune-Bewegung

Von Dietmar Kesten, Gelsenkirchen


Inhalt


Teil 1

Das Zusammentreffen der amerikanischer Schriftsteller Kerouac, Ginsberg und Garry Snyder am 12.10.1955 in San Francisco, bei dem Texte verlesen wurden, markierte in gewisser Weise den literarischen Beginn der so genannten „Beat-Generation“, die sich später in Gruppenbildungen niederschlagen sollte. So u. a. auch in der „Situationistischen Internationale“, die am 27.5.1957 in Cosio d’Arroscia (Italien) von französischen, italienischen, deutschen Künstlern und Intellektuellen gegründet worden war. Das Manifest zur „Verwirklichung des Kommunismus in der Revolutionierung des Alltagslebens“, sollte einen nicht unerheblichen Einfluss auf die deutschen Kommunarden haben. Vermutlich war es Dieter Kunzelmann, der sich als einer der ersten mit den Thesen der „Situationistischen Internationale“ in der Zeitung „Spur“ (ab 1960) beschäftigte, sie später mit nach Berlin brachte. Ab dem Frühjahr 1963 entwickelte er u. a. mit Rodolphe Gasche, Marion Steffel-Stergar, Peter Busch u. a., den Plan für eine „neue revolutionäre Gruppierung“, der so genannten „Subversiven Aktion“. Die Lebensformen der Kommune, wie sie seit 1957 bekannt gemacht worden waren, sind hier bereits lebendig. 1964 gründete Peter Busch eine Kommune, deren Form später auch auf die ganze BRD übergreifen sollte.

1964 fand in Bad Wiessee (Tegernsee) ein Treffen von Gruppenvertretern der „Subversiven Aktion“ mit Kunzelmann, Frank Böckelmann, Marion Steffel-Stergar aus München, Rodolphe Gasche, Herbert Nagel und Peter Busch aus West-Berlin statt. Im Mai 1964 traten Kunzelmann und Böckelmann erstmals in der Öffentlichkeit auf. Vermutlich störten sie einen Jahrestag bundesdeutscher Werbeleiter und Werbefachleute. Sie wurden festgenommen, später wieder freigelassen.

Anfang 1964 stießen u. a. Rudi Dutschke und Bernd Rabehl zu einer Zelle der „Subversiven Aktion“ in West-Berlin. Sie trat aber nie unter diesem Namen auf, sondern firmierte unter „Anschlag-Gruppe“. Unter diesem Namen war sie ab Herbst 1964 bekannt. Vermutlich im Frühjahr 1965 kam es wegen des Inhalts eines Flugblatts zu einigen Kontroversen zwischen Münchener und Berliner Sektionen, die sich an verschiedenen Begrifflichkeiten im Flugblatttext festmachen ließen. Während die Münchner einen „Schematismus“ und die „Ausklammerung von psychischen Faktoren aus der Praxis“ [1] kritisierten, wollten die Berlin ein „Selbstbestimmungsrecht der Kommunarden in der Aktion“ verwirklicht sehen.

Aufgrund unüberbrückbarer Differenzen kam es zur Spaltung der Gruppe im Sommer/Herbst 1965. Mit dem Hamburger Konzil aus dieser Zeit, wurde versucht, die Hauptkampflinien erneut zu vereinigen und den SDS zu integrieren; denn die Aufnahme von Kunzelmann und Böckelmann in den Münchner SDS im Dezember 1964 war mit erheblichem Widerstand verbunden. Nach Querelen mit Ausschlüssen und Aufnahmen wurden beide dann endgültig im Frühjahr 1965 mit anderen Mitgliedern der „Subversiven Aktion“ [2] ausgeschlossen.

In Berlin traten im Januar 1965 Gasche, Dutschke, Rabehl und Herbert Nagel in den (West-Berliner) SDS ein. Dutschke und Rabehl konnten sich etablieren, während Gasche und Nagel sich ausgeklammert fühlten. Ihre praktische Verweigerung der Mitarbeit bringt ihnen Vorwürfe ein, die mit „kleinbürgerlich“ und „opportunistisch“ umschrieben wurden. [3] Am 28.3.1965 wird Dutschke „politischer Beirat“ des SDS. Damit dürfte sich dann auch die eigentliche Trennung der „Subversiven Aktion“ vom SDS vollzogen haben. Ende Mai 1965 trennten sich die Berliner Gruppen von Dutschke und Rabehl.

Der Besuch Tschombes in West-Berlin am 18.12.1965 löste eine Reihe von Protestdemonstrationen aus, die vom SDS angeführt worden waren. Eine Demonstration war erstmalig am Flughafen Tempelhof mit Polizeiketten konfrontiert, die sich auch rund um das Rathaus Schöneberg, um das eine Bannmeile existierte, gebildet hatten. Diese Aktion löste wiederum reichliches Unbehagen aus. Die „Subversiven“ kritisierten einen „latenten Aktionismus“, der nichts mit „kulturrevolutionären Tiefendimensionen“ [4] zu tun habe.

Mit der „Viva-Maria“-Phase [5] ab Mai 1965 intensivierten die „Subversiven“ die Diskussion um ihr Selbstverständnis. Themen waren u. a.: revolutionäre und Dritte Welt, revolutionäre Aktionen und Bewusstsein - bei gleichzeitigen erneuten Kontakten zwischen Kunzelmann, Dutschke und Rabehl.

Mit dem Arbeitskreis „Formierte Gesellschaft“ des SDS aus dem Frühjahr 1966 begann erstmalig eine Diskussion um das Verhältnis von Theorie und Praxis bei der revolutionären Arbeit, die mit dem Ziel beendet werden sollte, die „Analyse des Monopolkapitalismus“ auf die Praxis zu übertragen. Die „Plakat-Aktion“ aus dieser Zeit („Amis raus aus Vietnam!“) brachte den SDS in eine gewisse Verlegenheit, denn es zeigte sich, dass bereits hier die Studentenbewegung keine einheitliche Bewegung war. Die „Subversiven“ wollten Kooperation bei der Planung von praktischen Aktionen, der SDS die „enthüllenden Effekte“.

Im Juni 1966 sah es fast noch danach aus, dass die Gruppen wieder zueinander finden könnten. Auf einer Tagung im Juni 1966 in Kochel am See (Oberbayern) wurde die Suche nach den Ansätzen einer „revolutionären Praxis“ fortgesetzt. Als Projekt wurde in der Diskussion das „Wohnkollektiv“ genannt, dass als Alternative der „bürgerlichen Wohnform“ entgegengestellt wurde. [6] In die Diskussion wurde Marcuses Schrift „Der eindimensionale Mensch“ eingebracht.

Die Realisierung einer Kommune schritt mit der Umsiedlung von Mitgliedern der ehemaligen Münchner „Subversiven Aktion“ nach Berlin weiter voran. Im September 1966 schien dieser Umzug beendet zu sein. [7] Im Oktober wurde die Diskussion massiv in den SDS hineingetragen.

Am 19.11.1966 kam es auf einem Colloquium des SDS zur Kommune-Diskussion. Befürchtungen traten auf, dass sich der SDS in einen „anarchistischen Club“, so Rabehl, verwandeln könnte. Durchzusetzen schien sich die Idee, dass der SDS „als Auffangstelle für (enttäuschte) SPD-Angehörige“ fungieren sollte. Dieses Ziel wollte man mit der November-Gesellschaft vom 26.11.1966 realisieren.

In dieser Zeit dürfte auch die Strategie-Diskussion um das Kunzelmann-Papier „Notizen zur Gründung revolutionärer Kommunen in den Metropolen“ gewesen sein. [8] Unter Berufung auf Marcuse wurde die „Machbarkeit der Geschichte“ eingefordert, das „Naturrecht auf Widerstand“.

Eine erste öffentliche Aktion der „Kommune I“ ist auf den 10.12.1966 in Berlin zu datieren. Das „Weihnachtspolitische Happening“ fand vor dem heute nicht mehr existierenden Cafe Kranzler am Kurfürstendamm nach einer Vietnamdemonstration statt. Auf dem Wittenbergplatz erklärte Dutschke, dass die Zeit reif für „eine neue Organisation“ sei. Und: „Lasst uns sofort damit beginnen.“ [9]

Am 17.12.1966 veranstalteten die „Kommunarden“ der KI eine so genannte „Spaziergang-Demonstration“, die darauf ausgerichtet war, mögliche Zusammenstöße mit der Polizei zu vermeiden. Man versammelte sich, zerstreute sich wieder, kam wieder zusammen. Es wurden Flugblätter verteilt und es wurde mit den Passanten diskutiert. Parolen waren u. a.: „Keine Keilerei mit der Polizei!“, „Kommt die Polizei vorbei, dann gehen wir an ihr vorbei!“, „An der nächsten Ecke dann, fängt das Spiel von vorne an!“. Die Polizei räumte vor dem Cafe Kranzler eine Ansammlung mit Ketten.

Am 31.12.1966 erklärten Mitglieder des SDS auf einer Plenardiskussion von Kommune-Gruppen ihre Bereitschaft, eine gemeinsame „große Wohnung“ ab dem 1.1.1967 zu beziehen. Fünf von zwölf Mitgliedern machten ihren Entschluss wieder rückgängig, die anderen zogen ein. [10]



Teil 2

Die Kommune-Bewegung strahlte irgendwo eine Faszination aus. Sie wurde aus einer Idee heraus geboren. Und war die auf die Spitze getriebene gesellschaftliche Verweigerung schlechthin. Da es keine eigentliche Programmatik gab, konnte sie auch als Antiordnung gegenüber der modernen Kulturwelt des Kapitalismus verstanden werden. Die frustrierenden damaligen Studien- und Berufsbedingungen waren vermutlich eine zusätzliche Motivation, dem Gefühl der Isolierung und der Vereinnahmung des Individuums durch den „kapitalistischen Lernbetrieb“ den Kampf anzusagen. Die Polemik gegenüber der Kleinfamilie als Hort der Unterdrückung ließ die Hoffnung aufkeimen, dass es möglich sei, durch die angedachte Alternative das Individuum zu befreien. Inwieweit Che Guevara mit seinem Aufruf, den „Menschen des 21. Jahrhunderts zu schaffen“, hier eine Rolle spielte, kann nicht mehr recherchiert werden.

Anzeichen dafür gab es. Viele andere im Übrigen auch. Die eigentliche Revolutionierung beinhaltete die Auflösung jedes Besitzdenkens und -verhaltens gegenüber jeder Form des Eigentums (wie des Partners), die kollektive Auseinandersetzung mit den erlebten und feststellbaren Problemen, die Planung der Aktionen und die Verantwortlichkeit jedes Einzelnen in diesen. Dass das Kommune-Experiment weit über die 68er-Bewegung hinaus eine gewisse Ausstrahlung auf eine spätere jugendbewegte Öffentlichkeit hatte (Hausbesetzerszene, spätere Landkommunen der grün-alternativen Bewegung), lässt sich m. E. dadurch erklären, dass die Inbesitznahme von leer stehenden Häusern oder die Sicherung des Existenzminimums (Lebensunterhalt/Lebensmittel) den Kapitalisten abgetrotzt werden sollte.

Dass das von vornherein ein Mythos war, lag schon in der Kommune selbst begründet, denn den „bürgerlichen Menschen“ zu verändern, ihn sozusagen psychisch „zu befreien“, war utopisch. Und die Kommune sollte schon bald an ihre Grenzen stoßen. In dem Augenblick, als die Aktiven mit ihren eigenen Schwierigkeiten konfrontiert waren, die „Charakterstrukturen“ aufzubrechen [11] und sie in die „neue sozialistische Bewegung“ überführen zu wollen, musste sie Zugeständnisse über Zugeständnisse machen. Das lag nicht nur an den schwerfälligen Aktionen, die teilweise nur aus purer Clownerie bestanden und auch nicht lustbetont waren [12], sondern an den objektiven Bedingungen des Kapitalismus, die den Momenten der subjektiven Vermittlung innerhalb und außerhalb der Kommune gegenüberstanden.

Lustvoll und erotisch, hedonistisch und sexuell befreiend, das wollte die Bewegung vielleicht sein. Sie war es aber nicht. Faktisch war sie eine Irritation, ein Größenwahn, ein Flash, aber vielleicht dann doch der radikalste Teil der damaligen Bewegung, wenn von der späteren RAF [13] einmal abgesehen wird. Tatsächlich machte sie sogar, was vielleicht weniger bekannt ist, einen langen Entwicklungsprozess durch, der mit den ersten theoretischen Ansätzen bis zum Anfang der 60er Jahre reichte. Und dass sie sich erst nach langen Fraktionskämpfen vom Münchner und Berliner SDS löste, war nicht nur bloße jungradikale und neurotische Besserwisserei.

Für die 1966/67er Zeit dürfte sich die Kommune-Bewegung mit dem SDS lange Zeit um die Rolle der Avantgarde gestritten haben. Zumindest im antiautoritären Lager war sie das auch unbestritten. In gewisser Weise war sie ja „nichtopportunistisch“, weil sie - im Gegensatz zu den SDS-Autoritäten - ihren Alltag zu „revolutionieren“ verstand. Ihre Aktionen verliefen teilweise zu denen des SDS und anderer Hochschulgruppen parallel, einige andere waren diesen radikal entgegengesetzt, wiederum andere waren psychotisch, autistisch, Underground-Klamauk und schockierender postmoderner Voluntarismus.

Mit der Gründung der „Kommune I“ in West-Berlin begann auch die Serie der politischen Happenings, die allerdings wenig mit dem Antiautoritarismus eines Teils der Studentenbewegung und anderer gesellschaftlicher Gruppen zu tun hatte, was ihr immer unterstellt wurde. Wenn etwa an die Schrift der KPD/ML „Antiautoritarismus und Arbeiterbewegung“ [14] gedacht wird, dann war es immer eine bestimmte Organisationsform, die eine „kleinbürgerliche Linie“ beim Parteiaufbau vertrat, die kritisiert wurde. Jene, die „sektiererisch auftritt“ und das „Proletariat als Klasse leugnen“ [15] würde. Damit hatte die Kommune nun wahrlich nichts am Hut.

Der Kommune gelang es nicht, ihre Verkrustungen aufzubrechen. Die angekündigte „Selbstfreiung“ endete meistens im blinden Aktionismus. Der Weg zum „individualistischen Selbst“ bestand in einer introvertierten Selbstsucht, die wiederum zynisch und sarkastisch gedeutet wurde, wenn einzelne Kommunarden in Interviews über ihre Aktionen sprachen. Keineswegs war die „sexuelle Befreiung“ oder die „sexuelle Revolution“ [16] das beherrschende Thema der Kommune. Programmatisch hatte sie nichts zu bieten. Außer einigen lapidaren theoretischen Ansätzen bestand ihre teils schwer durchschaubare Politik darin, die Staatsgewalt zu provozieren.

Die „Kommune I“ war m. E. gewaltbereit, aber auch nicht so, wie es Gerd Koenen formulierte: „Das Thema Nr. 1 in diesen Agitationen und Happenings war keineswegs Sex, wie die Legende es will, sondern Gewalt. Genauer gesagt, ging es um das projektive Spiel mit den Gewaltphantasien der Bürger ...“. [17] Die Kommune dürfte eher ein plakativer Aufruf „zum Handeln“ gewesen sein, der alle Formen des möglichen Widerstandes umfasste, wovon die gewaltbereite Aktion eine Form war, allerdings eine wichtige und sich erst später verdichtende. Doch zunächst wurde die Anwendung der Gewalt strikt vermieden. Mit der „Wieland-Kommune“ [18] konnte sich erst später ein Kreis herausbilden, der sich als Keimzelle der Stadtguerilla verstand.

Bereits mit dem Eintritt der Mitglieder der „Subversiven Aktion“ in den SDS bestand die Möglichkeit, Einfluss auf deren Politik zu nehmen. Inwieweit das gelang, ist kaum noch zu recherchieren. Dafür müsste man nicht nur das vorhandene, bei weitem nicht vollständige Material neu sichten, sondern auch Zeitzeugen befragen, die inzwischen verstorben sind oder sich nicht mehr „erinnern“ können. Die entstandenen Konflikte dürften sich nicht entschieden oder verringert haben. In welcher Weise etwas unterwandert wurde und mit welcher Methodik das geschah, muss im Dunkeln bleiben.

Dieser Prozess wurde in „Klau mich“ mit den Worten umschrieben: „Es waren jene Gruppe ... von Studierenden und Berufslosen, die sich als ‚Kommune I’ bezeichneten. Es handelt sich dabei um eine Vereinigung Gleichgesinnter, die etwa um die Jahreswende 1966/67 in Berlin entstanden und seitdem, ohne eine Rechtsform anzunehmen, vorwiegend unter den Studenten der Freien Universität, aber auch außerhalb des Universitätsbereichs in aufsehenerregender Weise hervorgetreten ist, unter dem Vorwand legitimer politischer Anliegen ... Unruhe in der Stadt zu verbreiten. Die Gruppe hat sich zunächst innerhalb des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) gebildet und dort ihre Anhängerschaft gefunden, die zwar häufig wechselte, aber in ihrem Kern ... erhalten geblieben ist. Ihr formeller Ausschluss aus dem SDS im Mai 1967 bedeutete weder die Aufgabe noch eine Abkehr von den radikalen Zielen führender SDS-Vertreter.“ [19]

Dass der SDS für die Kommune spätestens hier bereits eine Sekte gewesen sein dürfte, könnte sich daran festmachen lassen, dass er für politische Aktionen nicht brauchbar erschien, zu sehr mit sich selbst beschäftigt war, die „Elendigkeit der kapitalistischen Unterdrückung nicht artikulieren“ könne. [20] Andererseits warfen SDS-Mitglieder den Vertretern der Kommune vor, dass sie eine „vom Verbandsleben isolierte Gruppe“ [21] bildeten, den SDS vor „vollendete Tatsachen“ stellen würde. Trotzdem gab es regelmäßige Solidarisierungsaktionen zwischen SDS und Kommune, Kommune und SDS. Doch bis zum eigentlichen Ausschluss wurde die programmatische Debatte vertagt.

Mit der Verhaftung einiger Kommunarden nach dem „Puddingattentat“ (5.4.1967) gelang es noch, den politischen Protest zu transportieren. Und mit der polizeistaatlichen Überwachung einiger Mitglieder des SDS konnte die übergreifende Solidarisierung noch einmal die Konsequenzen für die Kommunarden verhindern. Noch am 4. Februar 1967 gehörten auf der ordentlichen Landeskonferenz des SDS in West-Berlin Mitglieder der Kommune dem Landesverband an. Vorwurf: „Wie konnte der Berliner SDS ... seine Organisation an Polit-Clowns ausliefern?“ [22]

Der Streit zwischen dem SDS und der Kommune eskalierte anlässlich einer Flugblattaktion der Kommune-Mitglieder während eines Wahlkampfes für die Urabstimmung der Studentenschaft am 2. Mai 1967. Die Flugblätter der Kommune waren mit SDS unterzeichnet. Die „Kommune I“ verhöhnte den Rektor, den Akademischen Senat und den AStA. Am 12. Mai 1967 verteilten Mitglieder der Kommune erneut Flugblätter: „Die Kommune ist tot, es lebe der SDS!“. Wolfgang Lefevre begründete in einem mehrseitigen Referat den Ausschluss der Kommune aus dem SDS. [23]

Das eigentliche Argument für den Ausschluss der Kommunarden dürfte die Desavouierung der politischen Vertretung, des SDS, gewesen sein, die Äußerungen von Langhans: „Was geht mich Vietnam an, ich habe Orgasmusschwierigkeiten“, die Bezeichnung der Studenten als „Lahmärsche und Karrieremacher“ und die Aufforderung im Namen des SDS an die Studenten „zu Hause zu bleiben“. Lefevre bezeichnete diesen Zustand als „Sprachlosigkeit und Anarchismus“. [24]

Nach der Trennung vom SDS war die „Befreiung“ vom „kleinbürgerlichen Muff“ (Fritz Teufel) angekommen. Der „subversive Aktionismus“ hatte hier gesiegt. Die Kommunarden bedienten sich bei ihren Aktionen zunächst der Technik bekannter Happeningformen aus den USA oder England (der Parodie), um ihre Kritik verständlich zu machen. Die Wirkung der Aktionen sollte darin bestehen, die Angegriffenen lächerlich zu machen, und sich dann bei Erschrecken oder Sprachlosigkeit dieser wieder zurückzuziehen. Dabei überschritten sie möglicherweise die tradierten Grenzen und verblüfften durch einen schieren Übermut, der zwischen Selbstbehauptung und Konfrontation lag, sich teils durch Witz, teils durch Verkleidung manifestierte.

(Februar 2006. Artikel wird fortgesetzt.)



Zeittafel

27.5.1957Gründung der Situationistischen Internationale.
Herbst 1957Gründung der Münchener Künstlergruppe Spur.
November 1958Flugblatt und Manifest der Gruppe Spur.
April 1959Die Münchner Gruppe Spur erklärt sich zur deutschen Sektion der Situationistischen Internationale.
1960Kunzelmann stößt zur Gruppe Spur und wird deren Theoretiker.
August 1960Die erste Ausgabe der Zeitschrift Spur (deutschsprachiges Organ der Situationistischen Internationale) erscheint in München.
22. bis 26.6.1962Schwabinger Krawalle.
September 1962Kunzelmann trennt sich von der Gruppe Spur.
1963Gründung der Subversiven Aktion.
1964Erste Kommune-Gemeinschaft in West-Berlin.
Anfang 1964Rudi Dutschke und Bernd Rabehl führen Diskussionen über Subversive Aktionen.
Juni 1964Malaktionen der Berliner Gruppe der Subversiven Aktion anlässlich der erneuten Kandidatur Lübkes zum Bundespräsidenten.
Herbst 1964 Die Berliner Gruppe der Subversiven Aktion tritt als Anschlag-Gruppe in Erscheinung.
18.12.1964Besuch Tschombes in Berlin, der von Protestaktionen begleitet wird.
Dezember 1964Aufnahme von Dieter Kunzelmann und Frank Böckelmann in den Münchner SDS mit Ausschlüssen und Wiederaufnahmen.
Januar 1965Eintritt von Gasche, Nagel, Rabehl und Dutsche in den Berliner SDS.
Frühjahr 1965Endgültiger Ausschluss von Kunzelmann und Böckelmann aus dem SDS durch Grundsatzbeschluss.
März 1965Dutschke wird politischer Beirat des SDS.
26.4.1965Ausschluss u. a. von Kunzelmann aus der Münchener Gruppe der Subversiven Aktion.
Ende Mai 1965Trennung der Berliner Gruppe der Subversiven Aktion von Dutschke und Rabehl (Viva - Maria Phase).
Frühjahr 1966SDS Arbeitskreis Formierte Gesellschaft.
Juni 1966Treffen in Kochel am See. Thema Revolutionäre Praxis und Wohnkollektiv.
September 1966Umzug von Kunzelmann u. a. nach Berlin.
Oktober 1966Kommune-Diskussion im Westberliner SDS.
Ende Nov. 1966Notizen zur Gründung von revolutionären Kommunen. Verfasser: Kunzelmann.
19.11.19661. Sitzung im Westberliner Landesverband des SDS. Thema: Kommune.
10.12.1966Weihnachtspolitisches Happening, Gründung der APO.
17.12.1966Spaziergang Demonstration.
1.1.1967Gründung der Kommune I.
7.1.1967Die Zeitung „Die Welt“ berichtet in ihrer Ausgabe von Kommunarden, die mit „linsradikalen Studenten in Berlin“ zusammenarbeiten würden.
4.2.1967Der ordentlichen Landeskonferenz des SDS gehören auch noch Mitglieder der Kommune an.
24.2.1967Die Westberliner Innenstadt wird auf Erlass des Innensenators faktische Bannmeile. Dort sind keine Demonstrationen mehr erlaubt.
24.2.1967Am Tag des Besuches von Bundeskanzler Kiesinger in Westberlin werden Studenten festgenommen. Möglicherweise auch Rainer Langhans.
5.4.196711 Mitglieder der Kommune werden festgenommen. Begründung: Sie hätten Anschläge gegen das Leben oder die Gesundheit des amerikanischen Vizepräsidenten Humphrey mittels Bomben/Chemikalien geplant. Eine Untersuchung ergab später, dass es sich bei den beschlagnahmten Plastikbeuteln, um Rauchkerzen, Farbstoff und Mehl handelte. Ein Ermittlungsverfahren wurde eingeleitet.
6.4.1967Während des Aufenthalts von Humphrey in Westberlin demonstrieren ca. 2.000 Personen.
6.4.1967Festgenommene Kommunarden werden wieder freigelassen, da ihnen eine „Tatverbindung“ oder „Verschwörung“ nicht nachzuweisen war.
7.4.1967Rechtsanwalt Horst Mahler protestiert gegen die Verhaftung der Kommunarden (Verletzung des Artikels 104 des GG).
8.4.1967In einer Pressekonferenz erklären die Kommunarden, dass es ihnen um einen „Akt der Lächerlichmachung“ ging. Vorbild sei die hierfür die „Amsterdamer Provobewegung“ gewesen.
8.4.1967Die „Bild“ schreibt: „Maos Botschaft in Ostberlin lieferte die Bombe gegen Vizepräsident Humphrey“. „Die Zeit“ spricht später von „Pudding-Mördern“ (14.4.1967), „Der Spiegel“ von „Mord“ (17.4.1967).
Ab 8.4.1967Der AstA der FU Berlin gibt eine Dokumentation heraus. Titel: „Analyse einer Hysterie - Über die Publizität einer verhinderten Protestaktion.“
12.4.1967Gegen Kommunarde Mitglieder werden Disziplinarverfahren eingeleitet. Der Regierende Bürgermeister übergibt dem Rektor der FU eine Namensliste zur Einleitung besagten Disziplinarmaßnahmen.
15.4.1967SDS-Landesversammlung in Westberlin. In einer Resolution wird erklärt: „Akademischer Senat und politische Justiz wissen, dass Sahnetorten und Pudding als Wurfgeschosse gegen kugelsichere Automobile lächerlich sind.“
19.4.1967Die Aberkennung der Förderungswürdigkeit des SDS wird im Akademischen Senat beraten.
2.5.1967Flugblätter der „Kommune I“ während eines Wahlkampfs für die Urabstimmung der Studentenschaft. Die Kommune ruft zum Boykott auf und verteilt Flugblätter, die mit „SDS“ unterzeichnet sind.
12.5.1967Ausschluss der „Kommune I“ aus dem SDS. Die Kommunarden verteilen Flugblätter „Die Kommune ist tot, es lebe der SDS“. Wolfgang Lefevre begründet in einem mehrseitigen Referat den Ausschluss.


Anmerkungen

[1] Vgl. Subversive Aktion: Der Sinn der Organisation und ihr Scheitern, O. O., o. J., Berlin 1965.

[2] Ebd.

[3] Ebd.

[4] Ebd.

[5] Vgl. Louis Malle: Viva Maria, 1965.

[6] Vgl. Bernd Rabehl: Am Ende der Utopie. Die politische Geschichte der Freien Universität Berlin, Berlin 1988, S. 196ff.; Tilman Fichter/Siegward Lönnendonker: Kleine Geschichte des SDS, Berlin 1977; Gerd Koenen: Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution, Köln, 2001, S. 149ff.

[7] Die Subversive Aktion wird vermutlich nach einem Treffen im April 1966 in Stuttgart aufgelöst. Beteiligte Gruppen waren aus München, Frankfurt/M., Berlin, Stuttgart und Tübingen angereist.

[8] Vgl. Rainer Langhans/Fritz Teufel: Klau mich, o. O., o. J. (Berlin).

[9] Vgl. Dokumente der Freien Universität Berlin 1948 - 1973: Hochschule im Umbruch, Teil IV (1964-1967), Die Krise, Berlin 1975. Mit diesem Ereignis dürfte sich die Außerparlamentarische Opposition (APO) definitiv konstituiert haben.

[10] Ebd., S. 134.

[11] Vgl. Wilhelm Reich: Charakteranalyse, o. O., o. J (1933); ders.: Der Einbruch der Sexualmoral, o. O., o. J. (1970)

[12] Es sei denn, man würde den Auftritt des Kommunarden Pawla als „lustvoll“ bezeichnen, der bei einer Verhandlung vor dem Moabiter Landgericht am 4.9.1968 die Hosen runterließ und den Gerichtssaal als öffentliche Bedürfnisanstalt benutzte.

[13] Rote Armee Fraktion.

[14] Vgl. Antiautoritarismus und Arbeiterbewegung, Bochum 1970.

[15] Ebd. S. 3ff.

[16] Nach Wilhelm Reich „Der Einbruch der Sexualmoral“, o. 0, o. J., S. 50ff. Und: „Die Funktion des Orgasmus“, o. O., o. J. (Hamburg).

[17] Vgl. Gerd Koenen: Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution, Köln 2001, S. 149ff.

[18] Etwa ab Ostern 1968.

[19] Rainer Langhans/Fritz Teufel: Klau mich, Berlin, o. O., o. J.

[20] Vgl. Tilman Fichter/Siegward Lönnendonker: Kleine Geschichte des SDS, Berlin 1977.

[21] Ebd.

[22] Vgl. Dokumente der Freien Universität Berlin 1948 - 1973: Hochschule im Umbruch, Teil IV (1964-1967), Die Krise, Berlin 1975, S. 144.

[23] Ebd. Dokumentenanhang 702.

[24] Ebd.



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