Vesper - Schülerzeitung, Jg. 1, Sonderausgabe, o. J. (1969)

Juni 1969:
In Groß Gerau erscheinen vermutlich diesen Monat am Prälat Diehl Gymnasium (PDG) eine zweiseitige Sonderausgabe der 'Vesper' (vgl. 26.5.1969, 1.7.1969) und zuvor ein Flugblatt ihres Redaktionskollektivs:"
DIESES BLATT SOLL DEM HESSISCHEN LANDE DIE WAHRHEIT MELDEN, ABER WER DIE WAHRHEIT SAGT WIRD GEHENKT.

Diesen Ausspruch Georg Büchners konnte man auf der Titelseite der zweiten Ausgabe der Vesper lesen; jetzt wurde die Vesper 'gehenkt'. Die Redaktion sieht sich außerstande dem immer stärkeren Druck der Schulbürokraten und reaktionären Elternvertreter standzuhalten. Die Anzeigen, die gegen die Vesper gestellt wurden, konnte man noch verkraften, untragbar ist aber, wenn Herr Dr. Klingler die Eltern von Redakteuren zu sich bestellt und ihnen von den 'Schandtaten' ihrer Kinder berichtet. Im Schülerzeitungserlaß (vgl. 13.8.1964, d. Vf.) heißt es, daß den Schülerzeitungen volle Pressefreiheit zu gewährleisten ist; Herr Klingler denkt aber nicht daran, Kritik zu dulden. Bisher konnte man die Vesper noch ertragen, aber als sie daran ging schulische Mißstände aufzuzeigen wurde sie untragbar. Man wies ihr einen Verstoß gegen das Pressegesetz nach und erklärte einfach, sie sei keine Schülerzeitung! Eine sehr einfache Methode unliebsame Kritiker mundtot zu machen.

An diesem Beispiel sehen wir deutlich, welche Aufgabe die Schule in der BRD hat. Ihr offizielles Ziel, nämlich mündige Menschen, verdeckt nur den wahren Charakter der Schule. In der Schule herrscht nicht Meinungsfreiheit, geduldet werden nur die Kräfte, die das bestehende System anerkennen. …

Diese Vorgänge am PDG passen genau in die Hetze des aus CDU/CSU, NLA, NPD und anderen reaktionären Kräften bestehenden Rechtskartells, gegen alle Demokraten und fortschrittlichen Kräfte.

An der Spitze dieses Rechtsblocks steht an unserer Schule der Vorsitzende des Elternbeirats Dr. Klotz, zweiter Direktor der Wick, und Dr. Klingler, der sich um den Posten des Konrektors bewirbt. Diese Leute haben gesellschaftliche Veränderungen zu fürchten, sie stemmen sich mit allen Mitteln gegen diese Veränderungen und dagegen, daß die Schüler ihre Interessen selbst vertreten. Deshalb mußten sie die Vesper entweder ganz ausschalten oder zähmen, und dies war ihnen trotz der 'fortschrittlichen' hessischen Schulgesetze möglich!

SOLCHE ÜBERGRIFFE AUF UNSERE DEMOKRATISCHEN RECHTE DÜRFEN WIR UNS NICHT LÄNGER GEFALLEN LASSEN, WIR MÜSSEN ORGANISIERT DEN KAMPF GEGEN DIE REAKTIONÄRE AUFNEHMEN!!"
Verantwortlich zeichnet G. Dotzauer in Groß Gerau.

In der zweiseitigen Sonderausgabe befaßt man sich mit einem Artikel von Rainer Neuderth im 'Fenster', einer weiteren Schülerzeitung, vermutlich an der Berufsschule, der die Nr. 2 der Vesper u.a. dahingehend kritisierte, daß sie Protest um des Protestes willen übe. Die 'Vesper'-Redaktion erklärt sich zunächst zur Diskussion bereit und führt u.a. aus:"
Einige Berufsschullehrer haben festgestellt, daß das Niveau der Vesper zu hoch sei! Auf viele Schüler, vor allem Berufsschüler trifft zu, daß sie unfähig sind, die zu lösenden Probleme überhaupt zu erkennen. Das ist in keiner Weise die Schuld der Schüler! Von der Schule (miserabler
Sozialkundeunterricht) nicht vorbereitet, gehen sie ins öffentliche Leben; werden mit 'BILD, den vielen Illustrierten und Zeitschriften wie dem 'Fenster' konfrontiert. Wie sollten sie sich gegen diese Manipulation der Hinterwelt (…) wehren?"
Q: Vesper Sdr.ausgabe, Groß Gerau o. J. (1969); Vesper-Redaktionskollektiv: Dieses Blatt soll dem hessischen Lande die Wahrheit melden, aber wer die Wahrheit sagt wird gehenkt, Groß Gerau o. J. (1969)

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