Die Antikriegstagsprozesse 1972 - 1980

Materialien zur Analyse von Opposition

Von Dietmar Kesten, Gelsenkirchen

Inhalt

Vorbemerkung zu allen Prozessen

Am 2. September 1972 nahmen an einer Demonstration zum „Roten Antikriegstag” in München laut KPD/ML ca. 5.000 Menschen teil. Gewaltsam durchbrachen die Demonstranten, vor allem Mitglieder und Sympathisanten der KPD/ML-ZB und der KPD/ML-ZK, die um die Innenstadt verhängte „Bannmeile“. Dabei kam es zu schweren Auseinandersetzungen mit der Polizei. In den darauf folgenden „Antikriegstagsprozessen“ wurden mehrere Demonstranten verurteilt.

Im Vorfeld der Olympiade hatte der bundesdeutsche Staat ein generelles Demonstrationsverbot während der olympischen Sommerspiele 1972 (26. August bis 11. September) in München erlassen. Dazu war vom Deutschen Bundestag bereits am 31. Mai 1972 ein eigenes Gesetz verabschiedet worden, das sog. „Olympia - Gesetz“. Es war ein „befristetes“ Gesetz, das bis zum 31. Dezember 1972 Geltung hatte. Es schränkte im Wesentlichen die Versammlungsfreiheit (Demonstrationsverbot) ein. Den Landesregierungen, in diesem Falle dem Freistaat Bayern, wurde eingeräumt, eine „Bannmeile“ um die Veranstaltungsorte zu ziehen. Das eigentliche Ziel des Gesetzes bestand aber darin, politisch motivierte „Störaktionen“ (Demonstrationen, Kundgebungen und Veranstaltungen) zu verhindern.

Doch es war nicht dieses Gesetz allein, dass, so die K-Gruppen, die Kommunisten zum „Stillhalten“ in dieser Zeit zwingen sollte, sondern der „Würgegriff des imperialistischen Staates“ (so in einer Broschüre des KJVD der KPD/ML-ZB zum „Roten Antikriegstag 1972“) bestehe weiter darin, die „innere Sicherheit“ durch neue Gesetze auszubauen, zur präventiven „Bekämpfung der Kommunisten“.

Zu diesen Gesetzen sollten gehören:

Diese Gesetze seien gegen die Arbeiterklasse und ihre Führung, die Kommunistische Partei, gerichtet. München sei der Ort, wo sie zum Einsatz kommen sollen. Olympia 1972 solle den „Völkern der Welt Entspannung vorgaukeln“, damit die „Taten der westdeutschen Imperialisten“ in Vergessenheit gerieten (so die „Jugend Rutsche“ der Jugendbetriebsgruppe des KJVD Minister Stein/Hardenberg in ihrer Ausgabe vom 21.8.1972 zum „Roten Antikriegstag“).

Die Verknüpfung der olympischen Spiele von 1936 mit 1972 lag für die K-Gruppen daher auf der Hand. Wie 1936, so stehe auch „Olympia 1972“ ganz im Zeichen „neuer Kriegsvorbereitungen.“ Die Münchener Olympiade spiele „in den finsteren Plänen Bonns eine wichtige Rolle. Den Völkern der Welt soll hier ein angeblich strahlendes, mächtiges, aber friedliebendes Westdeutschland vorgegaukelt werden. Es soll der Eindruck erweckt werden, als sei der Militarismus in Westdeutschland gezähmt“ („Rote Fahne“ des Zentralbüros, Nr. 19/1972).

Die Analogie bestand in einer einfachen Gleichung: 1936 = 1972. Von allen Artikeln, die zur Olympiade 1972 erschienen, sei hier noch einmal die „Rote Fahne“ des Zentralbüros zitiert:

„Vor 33 Jahren, am 1. September 1939, überfielen die Hitlertruppen Polen und begannen damit den II. Weltkrieg. Sechs Jahre lang brachte das schwarze Balkenkreuz mit den weißen Rändern auf Panzern und Flugzeugen Tod und Verderben über die Völker Europas und der ganzen Welt, bis es vom Hammer der Roten Armee unter dem Kommando Stalins vernichtet wurde. Drei Jahre zuvor hatten in Berlin unter dem Hakenkreuz Olympische Spiele stattgefunden, während gleichzeitig die Hitlertruppen in der Legion Condor das spanische Volk mit Bomben terrorisierten ... Heute, 33 Jahre später, finden in München zum zweiten Mal Olympische Spiele auf deutschem Boden statt. Wie 1936 in Berlin stehen wieder Soldaten bereit, um die Olympiade zu ‚retten’, wie die Westdeutsche Allgemeine am 13. August schrieb. 31.000 Mann Olympia-Heer - mehr als 1936 ... Heute ist die Bundesrepublik der einzige Staat in Europa, der offen die Revision der Grenzen in Europa fordert. Mit der sogenannten ‚Wiedervereinigung‘ haben die Bonner Politiker seit 1945 die Einverleibung der DDR gemeint und die Oder-Neiße-Grenze nicht anerkannt. Heute heißt die Formel: ‚Wiederkehr Deutschlands in seinen historischen und natürlichen Grenzen‘. Das bedeutet: Sie erhoben und erheben den Anspruch auf das Staatsgebiet der DDR und Teile Polens …“ (ebd.)

Diesem (neu-) deutschen „Revanchismus“, der „Notstands- und Aufrüstungspolitik“ sollte daher in München eine Absage erteilt werden. Gegen die „Kriegsolympiade“ (so der „Rote Morgen“ vom 28. August 1972), gegen „Massenmilitarisierung und Faschisierung“, gegen „Kriegspläne“ und „Großmachtstreben“ (ebd.) müsse eine Schlacht geschlagen werden. Für das „Recht auf die freie Straße“ müsse „die Münchener Bannmeile durchbrochen werden“ (so die Broschüre der KPD/ML-ZB und des KJVD: „Dem Volk das Recht auf die freie Straße. Warum die Münchener Bannmeile durchbrochen werden muss.“).

Der Münchener Marienplatz („Karlstor“) war der eigentliche Ort der Verhaftungen von Antikriegstagsteilnehmern. Hier endete auch die Demonstration. Nach den „taktischen Plänen“ der beiden KPD/ML-Gruppen war geplant, dort die direkte Auseinandersetzug mit dem Staat herbeizuführen (vgl. auch: Dietmar Kesten: Zur Geschichte der KPD/ML-Zentralbüro, F. Kapitel 23-26).

Der „Durchbruch der Bannmeile“ bestand in einer heillosen Aneinanderreihung von gewalttätigen Scharmützeln mit Schlagwerkzeugen, die sich ein Teil der Demonstrationsteilnehmer mit der Polizei bzw. BGS-Einheiten lieferten. Im Verlaufe dieser Aktionen wurde eine Reihe von Demonstranten festgenommen. Zynisch meinte das Zentralbüro seinerzeit: „Für Eure Forderungen (gemeint war die Arbeiterklasse, d. Vf.) sind in München Kommunisten und Demokraten verhaftet und ins Gefängnis geworfen worden ... Freiheit für die politischen Gefangenen! Freiheit für die KPD/ML, den KJVD - Weg mit dem KPD-Verbot! Nieder mit dem Bonner Notstands- und Kriegstreiberstaat …“ (vgl. Dietmar Kesten: „Zur Geschichte der KPD/ML-Zentralbüro“).

Von Verhafteten während der Antikriegstagsaktionen sprach erstmals die KPD/ML-Zentralbüro in ihrer „Roten Fahne“ 18/1972 vom 2. September. Danach hatte es „zahlreiche Verhaftete“ gegeben. Allerdings waren die Hinweise auf „unsere Verhafteten“ relativ ungenau. Zunächst sprach das Zentralbüro von „4 Verhafteten“, dann von „5 Verhafteten“ unter Nennung ihrer Namen.

Die Leser der Zeitung, „Teilnehmer und Beobachter“ der Aktionen am 2. September wurden dazu aufgerufen, die „Namen von Verhafteten bekannt zu machen“. Nähere Hinweise gab es vom ZB nicht mehr. Die Krise der Organisation, die nach dem „Roten Antikriegstag“ spürbar wurde, ließ auch keinen Platz mehr für nähere Auskünfte. Das ZB sprach zudem vollmundig davon, dass „alle Verhafteten freigekämpft“ werden müssten. Wie das allerdings geschehen sollte, blieb bis zuletzt unklar. Die „Solidarität mit den Verhafteten“ entschwand vollends. Und mit der Auflösung des ZB im Frühjahr 1973 blieb von der einzufordernden „klassenkämpferischen Front“ nur noch eine Seifenblase übrig.

Präziser war da schon die KPD/ML-ZK. Bei den Verhafteten sollte es sich laut „Roter Morgen“ um „Jungarbeiter, Arbeiter und Studenten“ handeln. Zunächst sprach die KPD/ML-ZK von „12 verhafteten“ Genossen und 11 in „Untersuchungshaft“ genommene, 8 von ihnen sollten kurz nach der Verhaftung wieder freigelassen worden sein. Später war in verschiedenen Verlautbarungen von „11 Verhafteten“ die Rede, „17 seien noch anhängig“ (vgl. das Interview des „Roten Morgen“ mit dem Genossen Schmidt vom 30. Juni 1973).

Weiterhin sprach der „Rote Morgen“ von „18 verhafteten Demonstranten“ (vgl. „Roter Morgen“ 28/1973), dann von „21 Verhafteten“ (vgl. „Roter Morgen“ 2/1974). Die „Rote Garde“, Zeitung der Roten Garde, Jugendorganisation der KPD/ML, schrieb im August 1975 gar von „22 Verhafteten“, „Spiegel Online“ schrieb im Januar 1980 lediglich von „10 Verhafteten“. Die Zahl variierte stets. Wie viele es tatsächlich waren, kann ich nicht mehr nachprüfen, vermutlich waren es zwischen 15 und 20 Personen, wobei einige nach Verbüßung einer kurzen U-Haft vermutlich wieder freigelassen wurden.

Einzelnen von ihnen sollte dann der „exemplarische Prozess“ gemacht werden. Hinzugefügt werden muss, dass ein erheblicher Teil der Verhafteten in den hier ausgewerteten Materialien namentlich nicht oder nur kurz erwähnt wurden Was aus ihnen geworden ist, ob die Strafanzeigen gegen sie fallen gelassen wurden, entzieht sich meiner Kenntnis.

Die Agitation, etwa der KPD/ML-ZK, für die „Freilassung der Inhaftierten Antikriegstagsdemonstranten 1972“ passte natürlich in deren politisches Konzept. Denn die Konfrontation mit dem Staat ließ diesen als (Mit-)Täter erscheinen, der erst durch die Errichtung der „Bannmeile“ einen Beweis für seinen „Militarismus“ und „Revanchismus“ geliefert hätte.

Zudem war für die KPD/ML wichtig, dass deren Genossen als „Kommunisten“ verurteilt wurden. Eine genauere Aufarbeitung aller Prozesse passte somit vermutlich nicht mehr in deren Konzeption. Daraus ließe sich auch möglicherweise die These ableiten, dass alle Verurteilten des „Antikriegstages 1972“ „politische Gefangene“ seien, und die Antikriegstagsdemonstration eine im kommunistischen Sinne war. Damit war für die KPD/ML der Kreis geschlossen.

Zudem ist die spätere Aufarbeitung der Prozesse durch die linke Presse in einer äußert schlampigen Form vorgenommen worden. So etwa bei den Urteilen, wo sie sich häufiger korrigieren musste. Es ist schon ein gravierender Unterschied, ob jemand zu 12 Monaten oder zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt wurde. Auch beim Antritt der Haftstrafen der Genossen war man zeitweilig sehr ungenau. Selbst die Angeklagten verstrickten sich dabei, wie auch der „Rote Morgen“ (vgl. etwa den Abschnitt zu Klaus Kercher), öfter in Widersprüche. Oft blieb völlig unklar, wann die Anklageerhebung erfolgte und weswegen die Angeklagten eigentlich genau verurteilt wurden. Hier gab es ein heilloses Durcheinander (die eigentlichen Verläufe habe ich unten in einer Tabelle mal aufgelistet).

Einige Prozesse wurden auch im Laufe der Jahre nicht mehr weiter verfolgt oder tauchten in den Periodika nur noch als Randnotiz auf (etwa gegen Klaus Stahl, Lutz Heinzelmann oder Lutz Henkel). Was aus ihnen wurde, ob sie freigesprochen wurden, nur in U-Haft saßen oder Bewährungs- oder Geldstrafen erhielten, ist mir nicht mehr nachvollziehbar.

Äußerst fehlerhaft waren auch die Hinweise, in welchen Strafanstalten die Verurteilten einsitzen mussten, wann und wohin sie verlegt wurden. Daneben nahm die linke Publizistik es nicht so genau, ob es sich bei dem Wiedererscheinen vor Gericht um Revisionen oder Berufungsverhandlungen handelte, welche Gerichtsinstanzen die Verurteilten durchliefen, wann sie aus dem Gefängnis entlassen wurden usw. Ob letztlich alle Urteile in der unten geführten Tabelle stimmig sind, muss offen bleiben. Fehler sind dem Verfasser bitte nachzusehen.

Hintergrund der Verhaftungen war für die KPD/ML-ZK, dass die Zugehörigkeit der Demonstranten zu einer kommunistischen Gruppe den Tatbestand der Mitgliedschaft in einer „kriminellen Vereinigung“ (nach § 129 StGB) erfüllen würde (vgl. „Roter Morgen“ vom 9. Oktober 1972). In den Prozessen tauchte dieser Hinweis der KPD/ML-ZK jedoch später nicht wieder auf.

Überdies sollte die Polizei, laut „Roter Morgen“ vom 25. September 1972, festgestellt haben, dass „Angehörige der KPD/ML auch an den Ausschreitungen am vergangenen Samstag am Karlstor beteiligt waren“. Daneben träfe das „Grundrecht der Versammlungsfreiheit“ möglicherweise auf sie nicht zu, da die Ziele der KPD/ML diesem widersprechen würden. In ihrem Zentralorgan machte die KPD/ML dagegen Front: „Die Zeit der Legalität“ sei nun vorbei, meinte der „Rote Morgen“. Die KPD/ML werde „verfolgt und verboten“ werden.

Die meisten Anklagen im Rahmen der „Antikriegstagsprozesse“ liefen unter: „Schwerer Landfriedensbruch“ (§ 125 StGB), „Schwerer Widerstand gegen die Staatsgewalt“ (§ 269 StGB), „Schwere Körperverletzung“ (§ 224 StGB), „Hochverrat“ (§ 81 StGB), „Verstoß gegen das Waffengesetz“ (§ 130a StGB). Zudem „Hausfriedensbruch“ (§ 123), „Verächtlichmachung der BRD“ (§ 90a), „Teilnahme an einer verbotenen Demonstration“ (etwa § 15 StGB). In einzelnen Fällen sogar nach § 89 StGB („Zersetzung der Bundeswehr“), „Illegaler Waffenbesitz“ bzw. „unberechtigtes Führen von Waffen“ (§ 51/52 StGB) und „versuchter Gefangenenbefreiung“ (§ 120 StGB). In allen Fällen, so der „Rote Morgen“, sei den Verhafteten der eingeforderte „Rechtsbeistand“ zunächst verweigert worden, was er als klaren Verstoß gegen das geltende Recht interpretierte.

Da mir keine Anklageschriften vorlagen bzw. nur unvollständige Zitate daraus in den verschiedenen Periodika zu finden waren, konnte ich nur aus den jeweiligen Verlautbarungen der K-Gruppen zitieren. Inwieweit die Darstellungen sich mit den wirklichen Vorgängen bei der Anklageerhebung deckten, konnte ich nicht überprüfen.

Offenbar vermischten sich die Anklagepunkte. Wahrscheinlich wurden einige im Laufe der Verfahren von der Staatsanwaltschaft fallen gelassen, andere kamen, wie etwa bei Sascha Haschemi, hinzu. So ergab sich ein mehr als widersprüchliches Bild, ein Puzzle, das nicht mehr zusammengesetzt werden konnte. Das betraf die „Beweise“ (in der Regel Fotos und Filmmaterial von Pressefotografen und der Polizei), die „Beweismittel“ (etwa Helme, Fahnenstangen, Schilder und Knüppel), Zeugen und Zeugenaussagen (in der Regel Polizeibeamte). Trotzdem waren von den Staatsanwaltschaften im Kern alle Anklagepunkte aufrechterhalten worden, was sich an den späteren Begründungen der Strafmaße für die Angeklagten ablesen ließ.

Man sollte bei der Betrachtung der Anklageerhebungen gegen die „Kämpfer des Roten Antikriegstages“ (so der „Roter Morgen“) im Kopf haben, dass am 5. September 1972, also einige Tage nach dem „Roten Antikriegstag“, ein palästinensisches Terrorkommando, das sich „Schwarzer September“ nannte, die israelische Olympiamannschaft in ihren Quartieren in München überfiel, einige Israelis als Geiseln nahm und die Freilassung von über 200 Gesinnungsgenossen, die in israelischen Gefängnissen einsaßen, sowie die Freilassung der RAF-Mitglieder Andreas Baader und Ulrike Meinhof forderten.

Was später, nach der Ablehnung der Forderungen durch die damalige israelische Ministerpräsidentin Golda Meir, geschah, was zwischen dem bayerischen Innenminister Bruno Merk, dem Münchener Polizeipräsidenten Manfred Schreiber, den deutschen Politikern Willy Brandt, Walter Scheel, Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher und einer Grenzschutzgruppe  nach Ablauf mehrerer Ultimaten abgesprochen wurde, lässt sich zurzeit nicht mehr rekonstruieren.

Dass es aber auf dem Münchener Flughafen Fürstenfeldbruck zu einer furchtbaren Katastrophe kam, sehr wohl. Alle Terroristen und neun Geiseln starben in einem Kugelhagel. Gegen Ernst Aust sollte wegen seiner Behauptung, dass in Fürstenfeldbruck auch „Geiseln von der Polizei erschossen worden“ seien im Februar 1974 ein Strafbefehl ergehen (vgl. Dietmar Kesten: „Die Prozesse gegen Ernst Aust, 2. Teil: 1974-1977“).

Einige Prozesse gegen „Antikriegstagsteilnehmer“, etwa der gegen Sascha Haschemi, Heinz Baron oder Klaus Kercher, fanden in München statt, wo sich die Stadtoberen nach den Anschlägen sozusagen ein kriminalpolitisches Instrument zur präventiven Bekämpfung von „Unruhestiftern“ (so der allgemeine Wortgebrauch der damaligen Justitia) geschaffen hatten.

Auffällig war in diesem Zusammenhang, dass in allen Anklagen die „schreckliche Bedrohung von links“ stets mitschwang und dass, wie bei Haschemi, die „Bedrohung des Staates“ durch „radikale Ausländer“ wohl richtungweisend wurde. Ob daher bei Haschemi, der von einer möglichen Ausweisung bedroht war, die Vorkommnisse des 5. September eine Rolle bei der Urteilsfindung spielten, ließ sich nicht mehr recherchieren und muss offen bleiben.

Die ersten Verhaftungen fanden schon kurz nach der Beendigung der Demonstration statt; am 2./3. September, aber auch später im Oktober des Jahres und sogar noch 1973. Die Anklageerhebungen liefen teilweise noch bis 1978. Laut „Roter Morgen“, aber auch laut „Rote Fahne“ des ZB und anderer linker Zeitungen waren die Demonstranten zunächst in Untersuchungshaft genommen, verhört und dann angeklagt worden. Einige der Angeklagten saßen zunächst bis zu 30 Tagen in U-Haft. Das dürfte auch erklären, warum etwa die KPD/ML-ZK erst spät Namen von Verhafteten veröffentlichte.

Die Verteidiger (etwa Jörg Lang, Becker, Fischer, Ahues, Flint) erklärten das als reine „Willkür der Justiz“, denn den Verhafteten sei ein Vergehen „nicht nachweisbar“. So wurden Fotos als „Beweismittel“ von ihnen abgelehnt und für nicht relevant erklärt, da die Beschuldigten auf ihnen, etwa wegen „Vermummung“, nicht erkennbar seien.

Die KPD/ML sah das als besonders verwerflich an; da würde die „Fratze der Notstands- und Kriegsolympiade“ mit allen Mitteln zurückschlagen. Auch das sei der „Geist von Olympia“. All das zeige, dass der „westdeutsche Imperialismus“ nicht davor zurückschrecke, „Terrorurteile gegen Kommunisten“ zu vollstrecken (vgl. „Roter Morgen“ 8/1974).

Die meisten Verhafteten wurden nach Aussagen aller hier verwertbaren Materialien unverhältnismäßig hart bestraft, oft auf einen bloßen Verdacht hin. Teilweise wurden sie sogar ihrer bürgerlichen Existenz beraubt. Vor allem lange Haftstrafen ohne Bewährung zeigten an, dass der Staat (auch im Zuge der Aust-Prozesse und der Prozesse gegen den „Roten Morgen“) möglicherweise einen Legitimitätsverlust befürchtete; denn das innenpolitische Klima bestand zur damaligen Zeit aus einer rasanten Verschärfung jener gesetzgebenden Maßnahmen, die möglicherweise darauf hinausliefen, den „politischen Radikalismus“ kontrollieren zu wollen. Das zeigten etwa, wie aus der „Rote-Hilfe-Zeitung“ zu entnehmen war, die Prozesse gegen ml Organisationen und viele ihrer Mitglieder.

Die „Antikriegstagsprozesse“, und das ist bemerkenswert, endeten erst Ende des Jahres 1979 mit dem Prozess gegen Dieter Vogelmann, der als „Mitläufer“ 7 Jahre auf seinen Prozess warten musste und der dann wegen „gemeinschaftlichen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Landesfriedensbruch“ (so „Der Spiegel“ 5/1980) zu einem Jahr Gefängnis ohne Bewährung verurteilt wurde.

Der Stellenwert der „Antikriegstagsprozesse“ basierte etwa für die KPD/ML auf folgenden Säulen:

Über Verteidigerstrategien in allen Prozessen lässt sich wenig sagen. Wie in den „Aust-Prozessen“, so dürften sie wohl darauf ausgelegt gewesen sein, alle Strafverfolgungen gegen die Mandanten als „unrechtmäßig“ und „unhaltbar“ zu interpretieren, die „Aufhebung der Haftbefehle“ und einen „Freispruch“ zu erlangen, da die Verhaftungen einen „offenen und klaren Rechtsbruch“ (vgl. „Roter Morgen Nr. 9/1974) darstellen würden.

Jörg Lang, der Klaus Kercher verteidigte und gegen das Klima der Vorverurteilungen Front machte, war teilweise von den Prozessen ausgeschlossen und wegen „Beleidigung“ und „Unterstützung einer kriminellen Vereinigung“ angeklagt worden. Das zeigt im Nachhinein, welche Brisanz in den „Antikriegstagsprozessen“ steckte.

Die Agitation für die „Freilassung der Kämpfer des Roten Antikriegstages 1972“ in den hier ausgewerteten Publikationen („Roter Morgen“, „Rote-Hilfe-Zeitung“, „Rote-Garde-Zeitung“) kann als enorm bezeichnet werden. Allerdings wiederholte sie sich auch wieder und wieder. Das Material liefert einen Beweis dafür, dass die Artikel für die „Freikämpfung der Genossen“ und die Begleitaktivitäten (Veranstaltungen, Info-Stände, Demonstrationen) über den örtlichen Rahmen (etwa München, wo einige Prozesse stattfanden) hinausgingen und sogar europäische „Solidarität mit den Angeklagten“ einforderten.

Der Kampf gegen die „Antikriegstagsprozesse 1972“ wurde auch von dem mit der KPD/ML verbündeten „Leuchtfeuer des Sozialismus“ in Europa, der VR Albanien, unterstützt. In einigen Sendungen von Radio Tirana wurde über die Prozesse gegen die Antikriegstagsteilnehmer berichtetet, etwa über den gegen Bernd Reiser im April 1975, und sie wurden auch beim Namen genannt.

Diese Untersuchung soll sich mit den „Hauptangeklagten“ des „Antikriegstages 1972“ beschäftigen, jene also, die in den Publikationen am häufigsten genannt wurden. Die Chroniken zu den Verhafteten überschneiden sich hier und da, da in den diversen Zeitungsartikeln öfter über 2 oder 3 Angeklagte gleichzeitig berichtet wurde. Bekannt geworden sind besonders Prozesse gegen die folgenden Teilnehmer an der „Antikriegstagsdemonstration 1972“:

Zum Schluss folgt hier noch eine Übersichtstabelle mit allen Urteilen gegen die Angeklagten, soweit sie von mir recherchiert werden konnten.

Zu danken habe ich dem „Archiv Schwarzer Stern“ in Dortmund für eine Reihe von Hinweisen, die das hier ausgewertete Material betreffen, vor allem aber für die Überlassung der Broschüre der „Roten Hilfe Dortmund“ zu den „Antikriegstagsprozessen“.

Übersicht über die Urteile

Heinz Baron Ein Haftbefehl bestand seit dem 3. September 1973. Verurteilung am 17. April 1973: 16 Monate Gefängnis ohne Bewährung. Strafe nach 11 Monaten Haft verbüßt. Haftentlassung: 29. Oktober 1976.
Peter Bayer Verhaftung: Juni 1973. Spätere Verurteilung: 18 Monate Gefängnis ohne Bewährung. Haftentlassung: 25. November 1975. Zusätzlich: 3 Jahre der Strafe auf Bewährung.
Sascha Haschemi Stand ab Mitte 1973 vor Gericht. Erster Prozess: Januar 1974. Haschemi ging ab dem 7. Februar 1974 in den Untergrund. Wurde vermutlich am 28. Januar 1974/Anfang Februar 1974 in Abwesenheit zu 18 Monaten Gefängnis ohne Bewährung verurteilt. Haschemi erhielt am 17. November 1975 die deutsche Staatsbürgerschaft. Im Berufungsprozess im Mai 1976 wurde das Strafmaß gegen ihn wiederholt. Haschemi wurde unter Anrechnung der U-Haft am 16. September 1977 aus der Haft entlassen.
Lutz Heinzelmann Strafmaß im „Antikriegstagsprozess 1972“ unbekannt.
Lutz Henkel Strafmaß im „Antikriegstagsprozess 1972“ unbekannt.
Wolfgang Herzog Strafmaß im „Antikriegstagsprozess 1972“ unbekannt.
Werner Hobrecker Strafmaß im „Antikriegstagsprozess 1972“ unbekannt.
Rainer Junk Strafmaß im „Antikriegstagsprozess 1972“ unbekannt.
Klaus Kercher Stand ab Februar 1974 vor Gericht. Im Oktober 1975 wurde er zu 16 Monaten Gefängnis ohne Bewährung verurteilt. Kercher sollte am 3. oder am 24. Januar 1977 seine Haftstrafe antreten. Er wurde am 4. November 1977 aus der Haft entlassen.
Hubert Lehmann Anklage: Vermutlich 1974 oder Frühjahr 1975. Verurteilung: 12 Monate Gefängnis ohne Bewährung. Überstellung ins Gefängnis: 28. April oder 9. Juni 1975. Haftentlassung: 26. Februar 1976.
Volker Nieber Verurteilung: 27. Oktober 1976, 16 Monate Gefängnis ohne Bewährung, danach Freispruch; 20. Juni 1977: Freispruch aufgehoben. Freispruch im Mai 1979.
Martin Peleikis Strafmaß im „Antikriegstagsprozess 1972“ unbekannt. Peleikis wurde wegen eines anderen Vergehens („Zersetzung der Bundeswehr“) im Juni 1977 zu 7 Monaten Gefängnis ohne Bewährung verurteilt.
Bernd Reiser Anlage vermutlich 1974. Reiser wurde im März 1975 zu 12 Monaten Gefängnis ohne Bewährung verurteilt. Im Mai 1975 erhielt er seine Ladung zum Strafantritt. Reiser wurde nach Verbüßung seiner Haftstrafe am 2. März 1976 aus der Haft entlassen.
Hans-Georg („Schorsch“) Schmidt Verurteilung: 30. Juni 1973: 18 Monate Gefängnis ohne Bewährung. Entlassung nach Verbüßung von 2/3 der Haftstrafe am 11. Juni 1976 (laut RHD) oder am 19. Juli 1976) (laut „Roter Morgen“).
Klaus Singer Hauptverhandlung: Wahrscheinlich Dezember 1973. Verurteilung: März 1974: 12 Monate Gefängnis auf Bewährung. Das Strafmaß wurde am 3. Oktober 1977 erhöht: 12 Monate Gefängnis ohne Bewährung. 1. Dezember 1978 vom Gericht bestätigt. Gleichzeitig Haftantritt.
Klaus Stahl Anklageerhebung unbekannt. Verurteilung im Februar 1974: 12 Monate Gefängnis ohne Bewährung. Berufungsprozess: Februar 1975. Ausgang: Unbekannt.
Dieter Vogelmann Anklage vermutlich November 1973. Verurteilung: 8. Oktober 1976: 12 Monate Gefängnis auf Bewährung. Die Bewährung wurde verworfen. Erneute Verurteilung: 11.Mai 1978: Ein Jahr Gefängnis ohne Bewährung. Strafantritt vermutlich: Ende 1979/Anfang 1980.


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